MICHAEL FISCHER SYMPOSION 2016
Sehnsucht nach der Fremde – Nachbarschaft erfahren
und in einem „erweiterten“ Europa leben
Unter der Schirmherrschaft von
EU-Kommissar Johannes Hahn
I„Wesentlich ist es zu lernen, dass wir von Menschen umgeben sind, die anders sind: die wir nicht oder nicht gut verstehen, die wir lieben, hassen, die uns gleichgültig oder rätselhaft sind, von denen uns ein Abgrund trennt oder nicht. Es ist notwendig, sich diese Fülle von Bezugsmöglichkeiten vor Augen zu halten. Wir müssen nicht nur mit Unterschieden leben, sondern auch denken und bedenken lernen ….“
(Michael Fischer)
Retrospektion
Im Gedenken an Michael Fischer fand im Herbst 2015 die vierte, nunmehr dem Gründer der Symposion-Reihe „Europa NEU denken“ gewidmete Tagung in Dubrovnik statt. Unter dem Vorsitz von EU-Kommissar Johannes Hahn referierten und diskutierten namhafte KünstlerInnen, LiteratInnen, AutorInnen, WissenschaftlerInnen und JournalistInnen die Überwindung physischer und immaterieller Grenzen im europäischen Raum. Sie betrachteten die „anderen Seiten des Meeres“ und die widersprüchliche Erörterung der Idee Europa. Distanz versus Nähe, Bedrohung versus Verheißung, Diversität versus Kongruenz, Eingrenzung versus Migration … Es sind grundlegende Ambivalenzen, die einerseits die Metaphysik des Meeres beschreiben, aber auch jene Traumgestalt von einem Europa, das so viele zu erreichen suchen. In der Ambivalenz, so darf man resümieren, liegt wohl die viel beschworene Identität begründet – und genau diese Paradoxa machen es so schwierig, dem genuin Europäischen habhaft zu werden.
Reflexionen zu „Region, Innovation und Kulturalität“ prägten die erste Ausgabe des Symposions „Europa NEU denken“, das 2012 in Triest stattfand. 2013 wurde die Bedeutung der Regionen als Zivilisationskulturen (ebenfalls in Triest) erörtert und 2014 in Piran die „Mentalitätsgeschichte der Adria“ erforscht. Die vierte Tagung des Symposions „Europa NEU denken“ in Dubrovnik begab sich erstmals an die Außengrenzen der EU und behandelte die „Erweiterung der Europäischen Union von den Küsten aus“. 2016 wandern wir noch 400 Meilen weiter südwärts, nach Syrakus, an die Ostküste Siziliens. Sizilien ist die größte Insel im Mittelmeer und in direkter Nachbarschaft zu Afrika gelegen: der Überrest jener Landbrücke, die Europa und Afrika einst verband.
Die diesjährige Veranstaltung steht naturgemäß ganz im Zeichen der durch die großen Migrationsbewegungen und die Flüchtlingskrise neu zu bewertenden Aufgaben im Hinblick auf die nachbarschaftlichen Beziehungen sowie der daraus resultierenden Herausforderungen für die europäische Erweiterungspolitik. EUROPA NEU DENKEN Michael Fischer Symposion 2016 Wobei das Hauptaugenmerk, wie EU-Kommissar Johannes Hahn ausführt, darauf liegen muss, „in unserer Nachbarschaft für Stabilität zu sorgen“. Neben der Unterstützung in wirtschaftlichen Belangen und bei der Erweiterung demokratischer Strukturen besteht eine wichtige Voraussetzung politischer Stabilität auch in der Ausbildung einer funktionierenden Zivilgesellschaft, die ihrerseits wiederum über interkulturelle Kompetenz verfügen muss. Intellektuelle aus den unterschiedlichsten Bereichen berichten deshalb über ihre Erfahrungen in der Begegnung mit dem Anderen und zeigen Möglichkeiten der Aneignung des Fremden auf, wie Zivilgesellschaft funktionieren und wie der Brückenschlag zur nachbarlichen Kultur gelingen kann. Sie verführen uns auf ihren bildhaften, historischen, literarischen, musikalischen, kulinarischen und philosophischen Reisen zu einer besonnenen Wahrnehmung kultureller Differenz. – Und zwar an einem besonderen Ort. Denn wie zuvor schon Triest, Piran und Dubrovnik bezeichnet auch Syrakus eine wesentliche Schnittstelle der Kulturen. Vor allem aber ist Syrakus als ein Brückenkopf zwischen islamischer und griechisch/römischer Welt anzusehen. Das Erbe der Römer und Byzantiner, der Araber und Normannen, aber auch der Staufer und Aragonier hat hier Spuren hinterlassen …
Als Johann Wolfgang von Goethe auf seiner italienischen Reise im Frühjahr 1787 auf Sizilien landete, bekannte er: „hier ist erst der Schlüssel zu allem“. Dortselbst kam der Dichterfürst beim Besuch des im 12. Jahrhundert erbauten Lustschlosses La Zisa übrigens erstmals mit dem Orient in Berührung, der ihn später zu seiner großen Gedichtsammlung „West-östlicher Diwan“ inspirierte. Die genannte Sommerresidenz der Normannenkönige, westlich von Palermo gelegen, zeigt deutliche arabische Einflüsse, waren doch die Handwerker und Baumeister mehrheitlich Araber wie große Teile der damaligen Bevölkerung Siziliens. Mit dem „West-östlichen Diwan“ schuf Goethe ein „Großwerk des Dialogs“, ein „Weltbuch“, das einen „Glücksfall der literarischen Globalisierung und des wohlwollenden Kulturenvergleichs, der auf der tieferen Einsicht der gemeinsamen universellen menschlichen Wurzeln beruht“, darstellt (Thomas Lehr). Um einen Dialog der Kulturen, Künste und Disziplinen bemühte sich Michael Fischer zeitlebens, auch mit der Begründung seiner Reihe für die Zukunft, „Europa NEU denken“. Es ging ihm um ein Nachdenken über „Kulturalität, Öffnung und universelle Verantwortung“ als Gegengewicht zur „Wiedererrichtung von Grenzen und Tabus“. Das gilt heute mehr denn je, deshalb wollen wir ihm in diesem, seinem Andenken auch künftig nach-denken.
Sehnsucht nach Europa
Von großem Intellekt zeugt auch das Denken und Schreiben des bedeutenden europäischen Erzählers Danilo Kiš, in dessen Leben und Werk Ilma Rakusa beim Symposion in Dubrovnik so eindrücklich einführte. In seinem Mitteleuropakonzept verwob Danilo Kiš Utopisches mit Verlorenem, suchte er nach dem Anderen im Gemeinsamen und behielt doch insgesamt einen skeptischen, weil rückwärtsgewandten und nostalgischen Blick auf Mitteleuropa: getragen von einer Sehnsucht nach Harmonie oder, wie Kiš es bezeichnete, nach einem „Heimweh nach Europa“. Ein solches Heimweh plagt – wie die vielen, oftmals sehr persönlichen Ausführungen in Dubrovnik zeigten – Jahrzehnte später nach wie vor die südosteuropäischen Staaten. Ausgehend von Danilo Kiš’ Erfahrungsraum, der einer „Welt von Gestern“ zuzurechnen ist, über die realen Traumata in Südosteuropa – und damit direkt anknüpfend an das vorhergegangene Symposion – wollen wir dieser Sehnsucht nach Europa nachspüren, allerdings unter gänzlich neuen Vorzeichen, die Krieg, Terrorismus, Flucht und Xenophobie dem Thema eingeschrieben haben.
Das Heimweh – der Nostalgia anverwandt – bezeichnet einerseits etwas Fehlendes, aber auch das Suchen, die Sehnsucht nach der Heimat. Ein Heim, eine neue Heimat zu finden, das wünschen sich Tausende Flüchtlinge aus den von Kriegen gebeutelten – und Europa benachbarten – Gebieten.
Gleichzeitig mit der Einreise der ersten Flüchtlinge ist auch das Bild des feindlichen Fremden in Europa wiederauferstanden, gespeist von Vorurteilen und Ressentiments, die vielfach im Mythos eines Abendlandes fußen, der dem 17. und 18. Jahrhundert entlehnt ist und immer eine unreflektierte Kampfansage gegen das Fremde meinte.
Der Abgrenzung und Begrenzung stellen wir das Fernweh, die Sehnsucht nach der Entdeckung des Neuen, Anderen, Fremden entgegen – um in der herausfordernden Zukunft auch in besserer Nachbarschaft leben zu können. Wir suchen das Andere und Fremde nicht nur in Sprache, Religion, Philosophie zu verstehen, sondern auch in Küche und Keller, Kunst und Couture. – Von Sizilien aus denken wir Europa von seinen Rändern her neu.
Um sich Fremdes und Neues anzueignen, Erkenntnis zu gewinnen, ja, um sich andere Zivilisationen verständlich zu machen, war auch Goethe ausgezogen. Aus der Erinnerung ließ er uns daran teilhaben: „indem ich in jenem schönen öffentlichen Garten zwischen blühenden Hecken von Oleander, durch Lauben von fruchttragenden Orangen- und Zitronenbäumen wandelte und zwischen andern Bäumen und Sträuchen, die mir unbekannt waren, verweilte, fühlte ich den fremden Einfluß auf das allerangenehmste.“ Doch der Fremde sind nicht nur das Schöne und Erhabene eingeschrieben.
Das Meer ist ungeheuer, ungezähmt, unermesslich. „Diese unendliche Fläche“, schreibt Hegel in seiner „Philosophie der Geschichte“, „ist absolut weich, denn sie widersteht keinem Drucke, selbst dem Hauche nicht“. Das Meer ist, was ihm eingeschrieben wird und dann gleich wieder verschwindet. – Dabei hat Hegel das Meer nie gesehen.
Nachbarschaftliche Erkundungen
Heimatverlust, Flucht, Herausforderungen im Exil – das sind nicht nur Parameter der aktuellen Krise, das sind auch die Ingredienzen einer der ältesten Dichtungen der abendländischen Literatur, jener von der großen Irrfahrt, die Odysseus auch an die Gestade Siziliens führte. An Herder schrieb Goethe aus Palermo: „Was den Homer betrifft, ist mir wie eine Decke von den Augen gefallen. … Nun ich alle diese Küsten und Vorgebirge, Golfe und Buchten, Inseln und Erdzungen, Felsen und Sandstreifen, buschige Hügel, sanfte Weiden, fruchtbare Felder, geschmückte Gärten, gepflegte Bäume, hängende Reben, Wolkenberge und immer heitere Ebnen, Klippen und Bänke und das alles umgebende Meer mit so vielen Abwechselungen und Mannigfaltigkeiten im Geiste gegenwärtig habe, nun ist mir erst die Odyssee ein lebendiges Wort.“ – Jenen, die auf dem Meer von Tunesien und Ägypten nach Pozzallo, einen kleinen sizilianischen Hafen, oder von Libyen nach Lampedusa übersetzen, ist die Irrfahrt jedoch heute nicht nur ein ungeheures Unternehmen, sondern oft entsetzliches Ende.
Auf Sizilien eröffnet sich der Blick in eine andere Welt. Die enge Nachbarschaft etwa mit Afrika ist im Bewusstsein der Sizilianer fest verankert. Mit all ihren Reizen und Abscheulichkeiten, wie sie etwa auch das Schicksal der Obstpflücker erzählt. In dieser Atmosphäre der Nähe des Fremden wollen wir uns dem Anderen nähern und Verstehen suchen, um nachbarschaftlich leben zu lernen – auch im Sinne einer global verstandenen Nachbarschaft des Respekts. Wir wollen einen ideellen Beitrag zur aktuellen Krise leisten, die sich auch in den Differenzen zwischen Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik widerspiegelt.
Unsere Sehnsucht nach neuen, anderen Welten, nach der Begegnung mit Fremdem stillen wir oftmals mit Wort und Bild, denen wir auch besondere Beachtung schenken. Allerdings suchen wir nicht die lieblichen Wunschwelten romantisierender Literatur auf, sondern die Sehnsuchtswelten des Heute und Jetzt, die wir nach den Devastierungen wohl erst neu erbauen müssen, an den Bruchstellen zwischen Orient und Okzident.